Lurs en Provence, 1988
Aquarell auf Aquarellpapier, 40 x 30 cm
Privatbesitz
Lurs en Provence! Ich werde die Klänge dieses Dorfes und der Landschaft dort nie mehr vergessen – den Klang des Lichts im Herbst, den Klang der Farben silbergrüner Olivenbäume und der Lavendelfelder, den Klang der Farben alter Gemäuer, den Klang der Zikadengesänge und das Gesirre und Gesumme der Insekten, den Klang knirschender Schritte auf ausgetrockneter Erde und nicht zuletzt den Klang der Gerüche in der Luft. Thymian, Rosmarin, Feigen.
In den Jahren 1986 bis 1988 nahm ich dreimal an einer spätsommerlichen Exkursion in die Provence teil, organisiert von den Professoren Heinz Popp und Robert Sessler im Rahmen meines Grafik-Studiums an der damaligen Fachhochschule für Design.
Zehn, zwölf Tage in der Landschaft sitzen und zeichnen. Meistens Aquarell. Und lange Abende, an denen wir über unsere Zeichnungen diskutierten und unter dem Einfluss von reichlich Côtes du Rhône sogar den Vollmond aquarellierten.
Diese Exkursionen haben den Grundstein für meine künstlerische Arbeit gelegt. Ohne diese Exkursionen hätte ich nicht Malerei studiert, sondern säße wahrscheinlich immer noch vor einem Rechner in einer Werbeagentur und würde Geschäftskarten oder Bierdeckel gestalten.
Und außerdem und nicht zuletzt war da noch Heinz Popp. Bei ihm studierte ich nach der Grundlehre. Grafik-Design.
Heinz Popp ist ein aufmerksamer und sensibler Beobachter. Sowohl beim figürlichen Zeichnen, beim Aktzeichnen und vor allen Dingen in der Landschaft. Außerdem malt er wunderbare Aquarelle und schneidet und schnitzt vortrefflich in Holzplatten. Seine Farbholzschnitte wirken transluzent und leicht – wie seine Aquarelle.
Ich glaube, es war diese Zeit bei Heinz Popp, die mich am meisten und nachhaltigsten beeinflusst und geprägt hat in der Art, eine Landschaft zu sehen und wahrzunehmen. Er ist ein unbedingter Verfechter des Zeichnens als Mutter aller Ideen, als Grundlage jeglicher Gestaltung. Zeichnen ist für ihn ein Prozess, das Sehen zu lernen. Überlebensnotwendig.
Er weckte damals mein Interesse an der Landschaft; die Bilder und Farben haben sich in mein Hirn eingebrannt! Ich wurde geradezu süchtig nach Landschaft, infiziert wie von einem Virus. Angesteckt von Heinz Popp. Wenn ich heute spazieren gehe, egal ob in der Stadt oder im Bliestal – ich betrachte alles mit den Augen des Zeichners. Licht, Schatten, Farben, Perspektive, florale Strukturen – der zeichnerische Blick, der alles auf seine Verwertbarkeit in Fläche und Linie untersucht, vorbehaltlos und interessiert an der noch so unscheinbarsten Kleinigkeit: Wegen der Zeichnungen und Aquarelle aus Lurs verabschiedete ich mich vom Beruf des Grafikers und stürzte ich in die Malerei. Auch wenn ich damals oft glaubte, das Gegenteil dessen zu machen, was Heinz Popp lehrte. Nach diesem Studium verging keine Reise mehr ohne Skizzenbuch, Zeichenblock und Aquarellfarben.
Lurs-en-Provence – ein Dörfchen, gelegen auf einem Fels in der Haute Provence, in der Nähe von Manosque und Sisteron. Von oben in nordwestlicher Richtung schweift der überwältigte Blick über die Landschaft bis zum Mont Ventoux, wenn man in östliche Richtung schaut, schlängelt sich das silberne Band der Durance in der Ebene unendlich weit bis zum Horizont. Am Spätnachmittag, wenn sich die Landschaft und der Horizont in der dunstigen Ferne verlieren, versammelten sich viele von uns oben an der Mauer im Dorf, um genau dieses Panorama festzuhalten.
Eine Landschaft, wie sie wohl nicht typischer sein könnte. Lavendelfelder, Oliven- und Fruchthaine wechseln sich ab mit alten Gemäuern, Höfen und bewaldeten Regionen. Im zauberhaft weichen Licht des Septembers tauchte frühmorgens allmählich die Landschaft auf, man musste sich beeilen mit der Malerei. Licht und Schatten veränderten sich schnell. Gegen Mittag brannte die Sonne mitunter unbarmherzig, dafür konnte man sich mehr Zeit lassen für die Bilder und Zeichnungen. Die Landschaft erschien weniger plastisch, weniger tief, dafür schärfer gezeichnet. Wir saßen entweder unter schattigen Pinien und Mandelbäumen oder in den teilweise zerfallenen, kühlen Gemäuern des Dorfes. Alle Motive lagen in unmittelbarer Nähe; im Umkreis von wenigen hundert Metern war alles fußläufig zu erreichen. Ein unerschöpfliches Reservoir.
Von Heinz Popp lernte ich, dass ein Motiv nicht spektakulär und überwältigend sein muss.
Ich erinnere mich, wie er Tage damit verbrachte, die Struktur eines uralten, knorrigen Olivenbaumstammes mit Aquarell zu untersuchen. Er arbeitete immer sehr konzentriert, ließ sich und den Farben Zeit, legte Lasur über Lasur. So wuchs der uralte, knorrige Stamm von neuem aus dem Papier – Lasur für Lasur. Zart und dennoch kraftvoll.
Andererseits beherrschte er aber auch das große Panorama; die Weite und Tiefe der Landschaft ist eigentlich seine Spezialität. Unterschiedliche Strukturen in der Landschaft zu erkennen und umzusetzen. Zeichen zu finden und zu erfinden. Zeichen für einen Baum, ein Haus, ein Feld. Für eine Landschaft. Zeichen für die unterschiedlichen Blatt- und Nadelstrukturen von Bäumen und Sträuchern, Zeichen für die Frucht auf Feldern.
Luftig, leicht und spielerisch hingetupft. Ziel war es, komplexe, komplizierte Ereignisse zu vereinfachen, auf ihren Kern und ihr Wesen zu reduzieren, ohne jedoch das Typische aus dem Auge zu verlieren.
Von Anfang an trieb er uns jeglichen rührseligen Postkartenkitsch und überstrapazierte Klischees aus. Wir mussten unsere eigene Provence finden.
Auch meine Liebe zur Farbe wurde in Lurs geweckt. Sowohl von Heinz Popp als auch von Robert Sesslers Palette beeinflusst, waren meine Himmel mitunter auch magentafarben oder türkis, Bäume und Landschaft explodierten in expressiven Farbfeuerwerken.
All das wirkt bis heute nach. Morgens nach dem Schlafen aufwachen, die Augen aufschlagen, aus dem Fenster gucken und sofort ein Bild vor Augen haben. Und das den ganzen Tag über. Bis zum Einschlafen. Und nachts von Bildern träumen.
„J’accuse!“ Daran bis Du nicht ganz unschuldig, lieber Heinz! Meinen Dank dafür.
(Dieser Text erscheint im Rahmen eines Katalogbeitages zur Ausstellung
„Heinz Popp | Zeichnungen“ im Stadtmuseum St. Wendel, Januar 2020)
Realbeck
26. November 2019 @ 14:56
Lieber Armin,
nachdem Du mir auf Twitter folgst, warf ich gleich einen Blick auf Dein Blog und las zu meiner Überraschung, dass Du noch bei Oskar Holweck studiert hast. Seinen Namen hatte ich viel weiter in der Vergangenheit verortet, weil eine Schulfreundin meiner Mutter in den 1950ern bei ihm studiert und uns einmal ihr damaliges Lehrprogramm gezeigt hatte. Endlose Farbübungen.
Das zweite Mal kam ich in meinem eigenen Studium mit ihm in Berührung, nämlich in der Auseinandersetzung um die rechte „Grundlehre“ eines Kunststudiums. Einen unserer Professoren an der HfBK Hamburg, Fritz Seitz, trieb das Thema um. U.a. auch, weil er sich diesbezüglich in der Linie Hölzel – Itten – Baumeister sah. Holweck stellte er uns als fehlgeleitete Grundlehre vor. Geistlos und mechanisch. Das war um 1986.
Dass Holweck damals noch lehrte, kam mir nicht in den Sinn. Erst ein Blick in Wikipedia dieser Tage zeigte mir, dass Holweck erst 1989 in Pension ging, also noch Zeitgenosse war.
Dass Du als Künstler ein Blog führst und schon so lange und beständig von Deiner Arbeit und Deinen Gedanken berichtest, finde ich sehr sympathisch. Viele Blogs dieser Art gib es nicht. Warum eigentlich?
Nur mit der Malerei kann ich nichts (mehr) anfangen und das geht auch auf Fritz Seitz zurück. Der empfing uns schüchterne Erstsemester seinerzeit mit der Frage:
„Im Jahre 1913 [es war wohl eher 16] stellte Marcel Duchamp ein Pissoir aus. Und da wollt ihr heute noch malen?“
Das hat mir den Pinsel aus der Hand geschlagen.
Mit besten Grüßen
Stefan
Armin Rohr
27. November 2019 @ 09:49
Lieber Stefan,
danke für Deinen Kommentar! Hat mich sehr gefreut. Ich bin schon vor einiger Zeit über Dein Blog gestolpert, von da aus über zahlreiche Verlinkungen auf für mich sehr anregende & interessante Gedanken rund um das „Betriebssystem Kunst“, den „Kunstbetrieb“ & die „Kunst“ an & für sich. Gedanken, die mich zwar auch seit Jahr & Tag umtreiben, ohne dass ich daraus aber jemals ernsthafte Konsequenzen gezogen hätte – was mein Treiben betrifft.
Mich erfüllt sowohl das Zeichnen als auch die Malerei mit Freude. In meiner Zeit an der HBK habe ich durchaus mit anderen Medien geliebäugelt, bin aber immer wieder zu Bleistift & Papier zurückgekehrt. Trotz Duchamps Pissoir …
(zu Holweck vielleicht noch drei Sätze: Natürlich sind auch mir diese Farbübungen nebst anderen, scheinbar endlosen Exerzizien bekannt. Was mich daran faszinierte, war auch die Tatsache, dass wir keine Kunst herstellten beziehungsweise: dass wir keine Kunst herstellen durften! Es ging um die Untersuchung von Bildelementen mit Werkzeugen wie Bleistift, Kohle, Farbe, Papier, Karton (oder auch Musik), um damit eine differenzierte & sensibilisierte Sicht auf die Welt zu ermöglichen. Sehen (Hören usw.) lernen. Mir hat das Augen & Ohren im wahrsten Wortsinn geöffnet – vor allem fürs Leben.)
Mein alter Professor pflegt bis heute (so oder ähnlich) zu sagen: „Ich mache keine Kunst. Ich zeichne. Ich bin auch kein Künstler, ich bin Maler & Zeichner.“
herzlichst
Armin
Tom
21. Januar 2020 @ 23:00
Ein schöner Text, eine wunderbare Hommage an Deinen alten Professor! Ich wäre gerne dabei gewesen!
Armin Rohr
22. Januar 2020 @ 07:23
Ich danke schön!