Als mein Vater am frühen Morgen des 17. September 2013 nach langen Tagen des Ringens verstorben war, bat mich meine Mutter, ihn zu fotografieren. Ich fand ich die Bitte meiner Mutter zunächst befremdlich: Ein Foto vom gerade verstorbenen, vom Todeskampf gezeichneten Vater?

Und erinnerte mich an die Fotokiste meiner Eltern, hunderte Fotos, manche sehr alt, vielleicht schon über 100 Jahre alt, schwarz-weiß, Ururgroßväter & -mütter, Familienbilder, Bilder von mir fremden Personen, Personen, an denen selbst meine Mutter keine Erinnerung mehr hatte.

Darunter war auch die Fotografie eines verstorbenen Kindes; aufgebahrt, der Kopf umrankt von Blumen, ein weißes Kleid, eine aufwändig gehäkelte Spitzenbordüre hing über den Rand des Sarges, die Hände gefaltet über den Bauch, über den Beinen ein Gesteck von Bumen & Bändern, friedlich, wie schlafend. Entschlafen. Spitzen & Kind bilden eine helle Diagonale von links oben nach rechts unten im ansonsten konturlosen dunklen Raum. Meine Mutter wusste nicht mehr, wer dieses Kind war & wie dieses Bild den Weg in ihren Besitz fand. „Wahrscheinlich ein verstorbenes Kind aus der Nachbarschaft …“

Ich erinnerte mich an die vielen Bilder, Gemälde & Darstellunge von Toten in der Kunstgeschichte; ich erinnerte mich an Totenmasken, Bilder & Gemälde von sterbenden Menschen.

Hieronymus Bosch, Ferdinand Hodler, Edvard Munch, Ilja Repin, Rembrandt – die unzähligen Darstellungen der Kreuzigung des sterbenden oder toten Jesus.

Ich fotografierte den toten Vater zur Erinnerung für meine Mutter.

Im Anschluss daran zeichnete ich meinen Vater in meinen Skizzenbuch. Für meine eigene Erinnerung.

Vor einigen Wochen lag meine an Demenz erkrankte Mutter nach einem schweren Schlaganfall im Sterben. Ich saß neben ihrem Bett saß & manchmal zeichnete ich sie.

Konzentriertes Zeichnen ist ein intensiver Prozess. Während des Zeichnens fühle ich mich viel stärker mit den Personen & Gegenständen verbunden. Ich erlebe die Situationen viel eindrücklicher, dichter. Ich bin näher dran. Es ist als würde ich die Menschen & die Dinge streicheln mit dem Stift, als würde ich wie in diesem Fall im Gesicht meiner Mutter spazieren gehen. Die Erinnerungen beim Betrachten der Zeichnungen lassen mich auch Jahre später tiefer eintauchen in die Erlebnisse & Vorgänge der gezeichneten Vergangenheit. Die Beobachtung des Erlebten & die gleichzeitige Aufzeichnung der Beobachtung wirken wie ein Katalysator für meine Erinnerung. Tiefer, als beim Betrachten von Fotografien.

Die Fotografie vermag das für mich in dieser Form nicht. Jedenfalls nicht immer. Das Zeichnen war für mich auch immer das Feiern des Lebens, des erlebten Augenblicks. Auch und gerade angesichts des Todes.

Meine Mutter starb in den Morgenstunden des 17. Juli; in dieser Nacht war ich nicht im Pflegeheim. Am späten Nachmittag dieses Tages war ich mit dem Bestatter verabredet. Bevor er kam, war ich eine kurze Zeit allein mit meiner toten Mutter im Zimmer. Ich verabschiedete mich von ihr, fand aber weder die Ruhe noch die Konzentration für eine letzte Zeichnung. Es ging einfach nicht.

Eine letzte Zeichnung, mit ihren gefalteten Händen, entstand zu Hause nach einem Foto.